Chefredakteur
Kolpingmagazin: Als Präsident eines Landtags, in dem die Parteien der demokratischen Mitte keine Mehrheit haben, erlebt man, was es im Parlamentsalltag bedeutet, wenn die Volksparteien Stimmenanteile und Sitze an kleinere Parteien verlieren. Ist das eine Bereicherung oder eher eine Gefährdung der Demokratie und ihrer politischen Stabilität?
Thadäus König: Volksparteien haben den Vorzug, dass sie verschiedene Meinungen zu unterschiedlichen Politikfeldern bündeln und verdichten. Diese Positionen und Einstellungen sind tief in einer breiten Anhängerschaft und damit in einem erheblichen Teil der Bevölkerung verankert. Die CDU eint das christliche Menschenbild, die SPD das Selbstverständnis ihrer Entstehung aus der
Arbeiterbewegung. Doch klassische Milieus sind in Deutschland auf dem Rückzug. Es bilden sich neue Parteien, die weniger auf Milieus beruhen, sondern in der Regel in ihren Forderungen auf bestimmte Themen fokussiert sind. Das heißt: Sie verfolgen keinen ganzheitlichen Politikansatz. Das betrachte ich zwar nicht als Gefahr für die politische Stabilität, aber es erschwert den Prozess der Meinungsbildung, auch im Parlament. Mit dieser neuen Situation müssen wir umgehen.
Welche Auswirkungen hat ein breiteres Parteienspektrum auf die Effektivität der Arbeit und auf die Entscheidungsfindung im Parlament?
Gerade für kleinere Parteien besteht die Herausforderung darin, ihre Themen in Kompromissen wiederzufinden, denn sie müssen sich profilieren, um sichtbar zu sein. Das macht Aushandlungs-prozesse nicht einfacher. Umso mehr Partner am Tisch sitzen, desto länger dauern die Verhandlungen. Die Bereitschaft und die Fähigkeit, Kompromisse zu finden, wird deshalb immer wichtiger für das Funktionieren unserer Demokratie.
Seit Jahren erhalten populistische und als extremistisch eingestufte Parteien immer mehr Zulauf. Was kann die Politik tun, um das Vertrauen in demokratische Strukturen und Prozesse zu stärken?
In Thüringen haben die Parteien der politischen Mitte – CDU (23,6 %) und SPD (6,1 %) – zusammen nicht einmal ein Drittel der 88 Parlamentsmandate. Und trotzdem ist es uns gelungen, mit mir einen CDU-Abgeordneten mit deutlicher Mehrheit zum Landtagspräsidenten zu wählen und eine Landesregierung zu bilden, die aus der politischen Mitte geführt wird. Generell sagen Umfragen, dass die große Mehrheit der Deutschen die Demokratie befürwortet. Über 90 Prozent sehen sie als die beste Staatsform an.
Unzufrieden sind die Menschen allerdings mit der Ausgestaltung. Hier ist viel Vertrauen verloren gegangen, auch in die etablierten Parteien. Für das Regierungshandeln ist wichtig, dass die Probleme und Sorgen der Menschen wieder in den Vordergrund gerückt werden. Wir haben momentan eine wirtschaftlich schwierige Situation: Es kommt zu Kündigungen. Die Menschen machen sich deshalb Gedanken, wie es beruflich weitergeht. Viele sorgen sich auch um ihre Rente, die Gesundheitsversorgung oder die Schulbildung ihrer Kinder. Das sind die Alltagsprobleme, die gelöst werden müssen.
Aber bei allem guten Willen der Abgeordneten: Die Politik wird nicht jede Ungerechtigkeit beseitigen können. Diese Erwartungshaltung müssen wir reduzieren und sollten wir auch nicht nähren. Es ist wichtig, den Bürgern stärker zu vermitteln, dass jeder auch ein Stück weit für sich selbst verantwortlich ist. Vor Ort kann dann vieles geregelt und gelöst werden, wenn die unteren Ebenen und Einheiten handlungsfähig sind. Da sind wir zum Beispiel beim zivilgesellschaftlichen Engagement – so wie es auch in den Kolpingsfamilien praktiziert wird.
Als Mitglied einer Kolpingsfamilie lernt man bereits von früh auf zivilgesellschaftliches Handeln kennen. Helfen diese Erfahrungen einem Landtagspräsidenten bei seiner parlamentarischen Tätigkeit?
Mir hat meine Mitgliedschaft bei Kolping sehr geholfen, besonders Entscheidungen in Gemeinschaft zu treffen, gemeinsam zu diskutieren – und das immer wertebasiert und von Sachlichkeit geprägt. Und: In einer Familie entscheidet in der Regel nicht nur einer. Der gewählte Vorsitzende führt die Familie, aber Entscheidungen trifft man gemeinsam. Auch wenn vielleicht in Detailfragen andere Meinungen bestehen, so ist man sich doch, was das große Ganze angeht, einig. Das ist ein Stück weit Demokratie im Kleinen.
Orientierung zur Bundestagswahl
Das Kolpingwerk Deutschland hat im Vorfeld der Bundestagswahl für seine Mitglieder und alle Interessierten eine Arbeitshilfe herausgegeben. In ausgewählten Themenfeldern zeigt sie aktuelle Probleme und Herausforderungen auf. Die Arbeitshilfe lädt dazu ein, sich mit den aufgeworfenen Fragen auseinanderzusetzen, sie in der Kolpingsfamilie zu diskutieren und eventuell die Wahlkreiskandidat*innen dazu einzuladen. Vertiefende Informationen zu den einzelnen Themenfeldern stellen wir in der Kolpingwerkstatt bereit.
Wie kann die Verbandsarbeit bei KOLPING dazu beitragen, dass der seit Jahren schwindende Gemeinsinn wieder gestärkt wird?
Was mir wichtig ist, dass wir einen offenen Diskurs pflegen. So lernen wir, die eigene Meinung mit Sachargumenten zu belegen und andere zu überzeugen. Aber auch, andere Meinungen zuzulassen, selbst wenn sie unbequem scheinen. Und wir lernen – und das ist auch für die Arbeit der Abgeordneten ganz wichtig, den Menschen zuzuhören. Viele haben den Eindruck, dass sie mit den Themen, die sie vor Ort beschäftigen, nicht gehört werden. Wir sollten zeigen, dass wir Probleme sehen und dass wir sie gemeinsam lösen wollen. Das ist etwas, was Kolping ausmacht: demokratische Prozesse und Gemeinschaft leben. Deswegen ist es wichtig, dass Kolping weiter vor Ort wahrnehmbar ist, dass Veranstaltungen organisiert werden, die Diskurs bieten und Gemeinschaft pflegen. KOLPING hat gerade in der heutigen Zeit zunehmender Säkularisierung natürlich auch die Aufgabe, christliche Werte, die Werte Adolph Kolpings, auch in die Zukunft weiterzutragen. Wenn wir die Wahlergebnisse betrachten, dann wird deutlich, dass es für extremistische Parteien schwieriger ist, in christliche Milieus vorzustoßen, weil diese über ein starkes Wertefundament verfügen, das ihnen Stabilität gibt.
Am kommenden Wochenende sind knapp 60 Millionen Bürgerinnen und Bürger aufgerufen, zur Bundestagswahl zu gehen. Bei den vergangenen Wahlen haben etwa ein Viertel der Menschen auf die Stimmabgabe verzichtet. Wie sind diese Menschen zu motivieren?
Zunächst einmal gehe ich davon aus, dass wir – ähnlich wie bei der letzten Landtagswahl in Thüringen – eine höhere Wahlbeteiligung haben werden. Was das für die Stimmenverteilung bedeutet, steht allerdings auf einem anderen Blatt Papier: Wir hatten zur Landtagswahl einen hohen Anteil an Protestwählern. Wahlen sind aber nicht dafür da, um “denen da oben” einen Denkzettel zu verpassen. Ich bin der Meinung, dass die Menschen bei ihrer Wahlentscheidung eher das Gesamte im Blick haben sollten. Sie sollten danach fragen, welcher Partei sie es am ehesten zutrauen, unseren Staat in allen seinen Politikfeldern voranzubringen. Dazu darf man sich nicht von einer Stimmung oder einem Gefühl leiten lassen, sondern muss bewusst abwägen und eine sachliche Entscheidung treffen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Was bei der Bundestagswahl 2025 neu ist

Bei der Bundestagswahl haben alle Wähler*innen zwei Stimmen, einmal für den bzw. die Direktkandidat*in im Wahlkreis und einmal für die Landesliste einer Partei mit den Kandidierenden für den Bundestag. Die Zweitstimme bestimmt allein, wie viele Sitze jede Partei im Bundestag erhält und spiegelt am Ende die Mehrheitsverhältnisse im Parlament wider.
Die im vergangenen Jahr verabschiedete Wahlrechtsreform sieht einige Neuerungen vor, die bei der Wahlentscheidung nicht unwesentlich sind.
- Feste Sitzanzahl: Die Zahl der Bundestagsabgeordneten wird auf gesetzlich 630 festgelegt. Überhang- und Ausgleichsmandate entfallen vollständig.
- Zweitstimmendeckung: Die Sitzverteilung richtet sich ausschließlich nach den Zweitstimmen. Direktmandate zählen nur,
wenn sie durch die Zweitstimmen gedeckt sind. - Proportionale Repräsentation: Die Verteilung der Sitze auf den Landeslisten garantiert, dass die Zusammensetzung des Bundestags dem Zweitstimmenergebnis entspricht (Quelle: www.bundesregierung.de).
Daraus ergibt sich, dass nicht unbedingt alle Direktkandidat*innen, die in ihrem Wahlkreis den ersten Platz erreichen, auch dem kommenden Bundestag angehören werden. Dadurch kommt den Landeslisten der Parteien zukünftig eine noch größere Bedeutung zu. Weiterhin gilt allerdings die sogenannte Grundmandatsklausel: Hat eine Partei trotz eines bundesweiten Ergebnisses unterhalb von fünf Prozent der Stimmen drei Direktmandate errungen, gehört sie trotzdem dem Deutschen Bundestag in entsprechender Abgeordnetenzahl an. Von dieser Regel hat in der Vergangenheit zum Beispiel Die Linke profitiert.
Demokratie braucht unser aller Mittun

Aufruf des Bundeshauptausschusses zum Schutz von Freiheit und Demokratie
Mit Blick auf die Neuwahlen ruft das Kolpingwerk alle Mitbürger*innen zu einem klaren Bekenntnis für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auf. Mache von Deinem Stimmrecht Gebrauch und setze ein klares Zeichen gegen Hass und Hetze! Nur auf Grundlage einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung kann es dauerhaften Frieden zwischen Menschen und Nationen geben.
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1 Kommentare
Otto Wiegele
am 15.02.2025Als große Kolpingsfamilie können wir stolz sein auf solche Politiker aus ihren Reihen, die bei aller Verschiedenheit der Parteien auf Verständigung hinarbeiten.