Frei und willig? Von der Debatte um ein soziales Pflichtjahr

Sollten junge Menschen zu einem sozialen Dienstjahr verpflichtet werden? Gute Argumente finden sich auf beiden Seiten.

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Markus Wessel-Therhorn

Gesellschaftsjahr, Deutschlandjahr, Chancenzeit… die Anzahl der Begriffe, mit denen die aktuelle Debatte um einen sozialen Pflichtdienst geführt wird, ist groß. Trotz aller Vielfalt in etwaigen Details beinhalten alle Vorschläge aber vor allem eines: eine klare, zeitlich begrenzte Verbindlichkeit. Aber sollten Menschen in Deutschland zu einem Dienst an der Gemeinschaft verpflichtet werden können? Ist dies, wie manche Kritiker*innen der Idee bezweifeln, eigentlich zulässig? Und selbst wenn, kann man Solidarität überhaupt erzwingen?

Die Ausgangslage

Die Auseinandersetzung um ein soziales Pflichtjahr ist dabei nicht neu. Seit Aussetzen der Wehrpflicht und des Zivildienstes im Jahre 2011 flammt sie immer wieder auf. So fachte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) vor gut zwei Jahren die Glut wieder an, als er in der Bild am Sonntag die Frage stellte, ob es "unserem Land nicht guttun würde, wenn sich Frauen und Männer für einen gewissen Zeitraum in den Dienst der Gesellschaft stellen". Die politischen Reaktionen damals: launig. Seither hat sich kein Konsens zum Thema gefunden – und das trotz Stellungnahmen von zahlreichen Spitzenpolitikern wie dem ehemaligen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert (CDU) oder bekannten Publizisten wie Richard David Precht.

"Während meines Freiwilligendienstes an der Yaowawit School in Thailand habe ich gemerkt, dass es möglich ist, ein zweites Zuhause zu haben. Die tägliche Arbeit mit den Kindern und das Zusammenleben mit ihnen hat uns schnell Teil einer wunderschönen Gemeinschaft gemacht. Das war manchmal auch herausfordernd aber hat letztendlich dazu geführt, dass ich mich nachhaltig mit kulturellen Gemeinsamkeiten und Unterschieden, Privilegien und vor allem globalen Strukturen auseinandergesetzt habe und ich diese Erfahrungen mit nach Deutschland genommen habe. Für diese Möglichkeit bin ich noch heute sehr dankbar."

Marie Wagner hat einen Freiwilligendienst im thailändischen Kapong an einem Internat geleistet, das vor allem von Kindern aus benachteiligten Familienverhältnissen besucht wird.

Wer ist dafür?

Für viele Menschen in Deutschland sind die Argumente für eine sozialen Dienstpflicht dennoch schlüssig. Laut einer Umfrage, die Infratest dimap bereits im September 2022 im Auftrag des SWR durchgeführt hat, würden 69 Prozent aller befragten Personen eine soziale Dienstpflicht für junge Erwachsene unterstützen – in der Altersgruppe zwischen 18 und 34 Jahren mit immerhin 51 Prozent knapp mehr als die Hälfte.

Als Grund für einen solchen Dienst wird oft der Nutzen für den sozialen Zusammenhalt hervorgehoben. Wer zusammen arbeitet und sich engagiert, rücke näher zusammen, sprich: Die eigene "soziale Blase" werde durchlässiger und es entstehe ein Wir-Gefühl, das auch über die verpflichtete Zeit hinweg erhalten bleibe. Darüber hinaus würden Lebenserfahrung und Soft Skills gewonnen, die auch im weiteren Berufsleben wünschenswert seien. Und junge Menschen aus allen Bevölkerungsteilen bekämen außerdem gleichermaßen Einblick in bestimmte Berufsbilder und damit die Chance, sich dahingehend zu orientieren – ein wichtiger Punkt bezüglich der Tatsache, dass heute nur bis zu acht Prozent der Freiwilligen einen Hauptschulabschluss haben, gegenüber den bis zu 90 Prozent mit Abitur.

...und wer dagegen?

Ein Pflichtjahr wäre also eine Win-Win-Situation für die Gesellschaft ebenso wie für die betroffenen jungen Menschen? Jein, finden Kritiker*innen der Idee. Denn all die genannten Vorteile eines Dienstes an der Gesellschaft setzten ihrer Meinung nach keine Pflicht voraus. Und überhaupt: Junge Menschen müssten überhaupt nicht zu sinnvollen Tätigkeiten gezwungen werden, schreibt beispielsweise der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) und verweist auf die Zahlen: Laut dem Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben engagieren sich bereits rund 100.000 junge Menschen pro Jahr in einem Freiwilligendienst. Statt junge Menschen zu "Solidarität" zu zwingen, sollte stattdessen die Attraktivität entsprechender Angebote erhöht werden. So könnte laut dem BDKJ die Zahl der Freiwilligen durch eine angemessene Förderung von Dienstplätzen verdoppelt werden.

"Mein eigener Freiwilligendienst ist nun schon einige Jahre her, aber er gehört zu den prägendsten Erfahrungen, die ich in meinem Leben machen durfte – bis heute. Ich wünsche allen jungen Erwachsenen diese Möglichkeit, deshalb setzen wir uns ein für das Recht auf einen Freiwilligendienst. Ein Pflichtjahr sehe ich allerdings eher skeptisch, da die eigene Motivation eine große Rolle für die Lernerfahrungen und Erlebnisse vor Ort spielt. Offenheit und Eigeninitiative sind Grundvoraussetzungen für eine tolle transkulturelle Erfahrung!"

Jana Kortum, Referentin Freiwilligendienste im Bereich Afrika/Ozeanien bei den Kolping Jugendgemeinschaftsdiensten "Mein eigener Freiwilligendienst ist nun schon einig

Entscheidung noch fern

Kritisch gesehen wird in der Debatte um einen sozialen Pflichtdienst auch das Argument, dass auf diese Weise dem eklatanten Fachkräftemangel in sozialen und Pflegeberufen entgegengewirkt werden könne. Kritiker*innen halten diesen Weg für nicht gangbar: Weder ein Freiwilligendienst noch ein Pflichtdienst wäre dafür geeignet, die Lücken in sozialen Berufen zu stopfen – von der praktischen Umsetzbarkeit wie der nötigen, intensiven Ausbildung und Begleitung der jungen Menschen ganz abgesehen.

Es wird deutlich: Das Thema Freiwilligkeit oder Pflichtdienst ist komplex und jede Entscheidung in dem Bereich bringt weitreichende Konsequenzen mit sich. Der Bundesfachausschuss Gesellschaft im Wandel des Kolpingwerkes Deutschland ist aus diesem Grund auch noch nicht zu einer abschließenden Haltung darüber gekommen, ob ein Pflichtdienst nicht doch die  bessere Alternative zu einer Beibehaltung der Freiwilligkeit sein könnte. Aber egal ob freiwillig oder verpflichtend: Was zählt, ist der Dienst am Menschen und damit der Dienst an der Gesellschaft. Zumindest an dem Punkt sind sich alle Seiten in der Debatte einig. Und da ist die Bibel unmissverständlich: "Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan", heißt es etwa bei Matthäus. Und Adolph Kolping erklärte "Tue Gutes, wo Du kannst, ohne Ansehen der Person. Und wer der Hilfe bedarf, wo Du sie leisten kannst, der ist Dein Nächster."

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