Referent Arbeit, Gesellschaft und Soziales
Die zunehmende Schieflage der sozialen Sicherungssysteme ist ein bestimmendes Thema in Deutschland. Dabei gehen die Ursachen nur zum Teil auf den demografischen Wandel zurück. Herausforderungen beginnen schon in der Arbeitswelt. Wie geht man mit dieser komplexen Gemengelage im Nachbarland Österreich um? Eine Spurensuche mit der "ständigen Kommission Arbeitswelt und Soziales" in Wien.
Ein kühler, aber sonniger Januarmorgen in Wien. Dem deutschen Klischee entsprechend finden sich die zwölf Mitglieder der Fachkommission des Kolpingwerkes bereits eine Viertelstunde vor Besprechungsbeginn an der Pforte des Bundesministeriums ein. Geladen hat der stellvertretende Leiter der Sektion Sozialversicherung im Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz – kurz BMASGPK. Das BMASGPK ist ein Schlüsselressort im österreichischen Verwaltungsapparat, nach Aussage des Politveteranen und Publizisten Manfred Matzka sogar das älteste Sozialministerium der Welt. Heutzutage ist es nicht nur für die Sicherung der öffentlichen Gesundheit des neun Millionen Einwohner zählenden Landes verantwortlich, sondern auch für den größten der sozialen Sicherungszweige: das Pensionssystem.
Die Tarifpartnerschaft
Eckpfeiler der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland
Ähnlich wie in Österreich zeichnet sich die soziale Marktwirtschaft in Deutschland durch ein konsensorientiertes Miteinander von Beschäftigten und Arbeitgeber*innen aus. In Deutschland ist dies unter dem Begriff der Tarifpartnerschaft geläufig, während man in Österreich von Sozialpartnerschaft spricht. Insbesondere in den industrienahen Branchen, aber teils auch in Handel, Gastronomie und Handwerk, setzen sich Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände als Tarifparteien an einen Tisch, um die jeweiligen Arbeitsbeziehungen auszuhandeln. Am Ende des Verhandlungsprozesses steht im Idealfall ein Tarifvertrag, der eine Vielzahl an verbindlichen Bestimmungen zu Gehalt, Sonderzulagen, Urlaubstagen und Arbeitszeiten vorsieht. Tarifverträge sind auf Zeit ausgehandelt und bedürfen in regelmäßigen Abständen einer Neuaushandlung, bei der es vor allem um die Anpassung von Gehältern geht.
In Österreich bezeichne man die gesetzlichen Altersbezüge als Pension, während der Begriff "Rente" etwas anderes meine, erklärt Josef Bauernberger. Der stellvertretende Sektionsleiter ist ein freundlicher Herr im fortgeschrittenen Alter, der die typische Wiener Gelassenheit ausstrahlt, begleitet von vier jungen Kolleg*innen aus seinem Stab. "Sie wissen schon, dass die Pension inzwischen für fast alle Einwohner gilt", fährt Magister Bauernberger fort. Denn vor 20 Jahren sei in Österreich ein großer Wurf gelungen, der in Deutschland bis heute undenkbar ist: Damals wurden Angestellte und Beamt*innen in ein einheitliches System der Alterssicherung überführt. “Die politische Einigung stand noch am Abend vor der Abstimmung Spitz auf Knopf, die politischen Mehrheiten waren unsicher.” Doch am Ende habe die Jahrhundertreform die erforderliche Zustimmung im Nationalrat gefunden. Für Neubeamt*innen gilt inzwischen ein vergleichbares Rentenniveau wie für alle abhängig Beschäftigten. Im Übrigen sei der Beamtenstand ohnehin deutlich geschrumpft, wie aus Bauernbergers Mitarbeitendenstab verlautet. Sie selbst seien Angestellte des Ministeriums, verbeamtet würde seit 1999 nicht mehr. Dies gelte inzwischen für alle Bundesministerien. Auch wenn dies für jüngere Mitarbeitende langfristig niedrigeren Lohn und dementsprechend geringere Altersbezüge zur Folge habe, sei die Reform des Pensionssystems im Grundsatz sinnvoll gewesen, um Gleichheit und Fairness unter den Beschäftigten im Land herzustellen.
Hohe Beiträge bringen hohe Leistungen mit sich
Das österreichische System der Alterssicherung beeindruckt nicht nur durch die mutige Jahrhundertreform aus dem Jahr 2004. Mindestens genauso beeindruckend ist das Leistungsniveau, das sich auf die griffige Pensionsformel “80/45/65” bringen lässt. Übersetzt bedeutet dies: Wer 45 Jahre lang Beiträge eingezahlt hat, kann bei Erreichen des Rentenalters von 65 Jahren mit einer Pension in Höhe von 80 Prozent des Lohns rechnen, den er bzw. sie im Lebensverlauf durchschnittlich verdient hat. Tatsächlich liegt die Nettoersatzrate in Österreich nahe bei 90 Prozent – eine Quote, die fast ausschließlich auf den Leistungen des staatlichen Pensionssystems beruht. Anders als in Deutschland mit seinem Drei-Säulen-Modell aus gesetzlicher, betrieblicher und privater Altersvorsorge sei man in Österreich weitestgehend unbeeindruckt geblieben von den Verlockungen des Kapitalmarktes, so Bauernberger.
Im Vergleich dazu ist Deutschland im internationalen Ranking der Industrieländerorganisation OECD weit abgeschlagen und kann nur mit einer Lohnersatzrate von 55 Prozent aufwarten – betriebliche und private Altersvorsorge eingerechnet (siehe Grafik). Auch die Frage von Altersarmut nimmt in Österreich einen geringeren Stellenwert ein: 10 Prozent aller Pensionist*innen profitieren von der als Ausgleichszulage bezeichneten Mindestabsicherung im Alter, die vor einem Abgleiten in Existenznot schützt. Voraussetzung sind allerdings 15 Beitragsjahre. Das relativ hohe Versorgungsniveau lassen sich die Österreichischer*innen etwas kosten. Der monatliche Beitrag liegt mit 22,8 Prozent deutlich über dem deutschen Wert. Allerdings kommt der aus Perspektive der Arbeitnehmenden angenehme Effekt hinzu, dass der Arbeitgebendenanteil mit 12,55 Prozent höher ausfällt. Im Ergebnis zahlen Arbeitnehmer*innen in Österreich damit nicht sonderlich mehr in die Pensionskasse ein als in Deutschland, wo der Beitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung jeweils hälftig getragen wird. Und schließlich wartet das Pensionssystem der Alpenrepublik mit einem weiteren “Zuckerl” auf: Anders als in Deutschland erhält man im Ruhestand insgesamt 14 Monatspensionen. Das hat wiederum Gründe, die jenseits des Pensionssystems liegen.

Gute Renten setzen gute Arbeitsbedingungen voraus
Dass man als Ruheständler*in 14 Alterspensionen im Jahr erhält, beruht auf der Tatsache, dass Arbeitnehmende in Österreich obligatorisch mit 14 Monatsgehältern planen können. Um die Hintergründe dafür in Erfahrung zu bringen, brechen die Mitglieder der ständigen Kommission Arbeitswelt und Soziales nach ihrem Termin im BMASGPK zu einem Gespräch mit Jimmy Müller vom Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB) auf. Der Gewerkschaftssekretär vom ÖGB hat zum gemeinsamen Austausch mit seinem Kollegen Walter Gagawczuk von der Kammer für Arbeiter und Angestellte geladen.
Arbeiterkammern gibt es außerhalb Österreichs nur in Luxemburg sowie in den beiden deutschen Bundesländern Bremen und Saarland. Mit wenigen Ausnahmen ist die Mitgliedschaft in der Arbeiterkammer für alle abhängig Beschäftigten verpflichtend, was in Österreich sogar in der Verfassung festgehalten ist. Pflichtversicherte, die einen monatlichen Kammerbeitrag entrichten, erhalten nicht nur umfangreiche Beratungsangebote in Arbeitsrechts- und Steuerfragen, sondern sie genießen auch einen Rechtsschutz, wie er in Deutschland nur für Gewerkschaftsmitglieder vorgesehen ist.
KOLPING
Sozialverband und Arbeitnehmerorganisation
Als anerkannte Arbeitnehmerorganisation bringt sich KOLPING nicht nur regelmäßig in sozialpolitische Debatten ein, sondern gestaltet durch das vielfältige Engagement seiner Mitglieder Arbeitswelt und Sozialversicherung mit. Der Status als Arbeitnehmerorganisation macht KOLPING zwar nicht zu einer Gewerkschaft. Schließlich trat der christliche Sozialverband in seiner 175-jährigen Geschichte nie als Tarifpartei auf, die mit Arbeitgeber*innen Tarifverträge aushandelt. KOLPING erfüllt mit seinem Engagement in den Organen und Gremien der gesetzlichen Krankenkassen, Berufsgenossenschaften und Rentenversicherungsträger jedoch eine Kernaufgabe, die auch viele Gewerkschaften wahrnehmen. Inhaltlich begleitet wird dieses Engagement insbesondere durch die ständige Kommission Arbeitswelt und Soziales des Bundesvorstandes. Sie ist unter anderem für die Benennung der Kandidierenden verantwortlich, die für KOLPING bei den Sozialwahlen antreten. Der Kommission gehören 18 Mitglieder an, die sich in drei inhaltlichen Fachgruppen mit Fragen von handwerklichem Engagement, Arbeitsmarktpolitik und sozialer Sicherung beschäftigen.
“Das muss doch zur Folge haben, dass die Gewerkschaften in Österreich kaum Mitglieder haben”, wirft Werner Koop während des gemeinsamen Gesprächs ein. Koop ist Mitglied der ständigen Kommission und war vor seinem Ruhestand 40 Jahre lang Gewerkschaftssekretär bei ÖTV und ver.di. “Ganz im Gegenteil”, entgegnet Müller vom ÖGB. Etwa jede*r vierte Beschäftigte sei Mitglied in einer Gewerkschaft. Ein Wert, von dem man in Deutschland inzwischen nur träumen könne. “Die Stärke der österreichischen Sozialpartnerschaft liegt auch darin begründet, dass sich ÖGB und Arbeiterkammer, von der es in jedem der neun Bundesländer eine gibt, in ihrer Arbeit für die Beschäftigten ergänzen.” Es gebe eine klare Aufgabenteilung. So läge der Abschluss von Tarifverträgen, die man in Österreich Kollektivverträge nennt, ausschließlich beim ÖGB und seinen Mitgliedsgewerkschaften.
Faktisch arbeitet in Österreich jeder*r Beschäftigte unter den Bedingungen eines Kollektivvertrags. “Es gibt nur sehr wenige Ausnahmen”, bestätigt Walter Gagawczuk von der Arbeiterkammer. Die im internationalen Vergleich fast schon einzigartig hohe Tarifbindung beruhe nicht nur auf der Stärke der Gewerkschaften, sondern im Wesentlichen darauf, dass die hiesigen Unternehmen ebenfalls zur Mitgliedschaft in einer Kammer verpflichtet sind. Dies hat zur Folge, dass die Mitgliedsgewerkschaften des ÖGB in nahezu jeder Branche auf eine*n organisierte*n Verhandlungspartner*in auf Arbeitgeberseite treffen.

Die schleichende Erosion der Sozialpartnerschaft
In Deutschland befindet sich das System der Sozialpartnerschaft seit Jahrzehnten in einem Erosionsprozess. Waren vor 25 Jahren noch drei Viertel aller Beschäftigten tarifvertraglich abgesichert, sind es derzeit noch knapp die Hälfte. Außerhalb des öffentlichen Dienstes ist der Organisationsgrad der Arbeitnehmenden noch geringer. Zudem sind nur 16 Prozent der arbeitenden Bevölkerung noch Mitglied bei ver.di, IG Metall und Co.
“Dieser Erosionsprozess ist erschreckend und alarmiert uns als anerkannte Arbeitnehmerorganisation seit vielen Jahren”, erklärt Kathrin Zellner, die ehrenamtlich die ständige Kommission Arbeitswelt und Soziales des Kolping-Bundesvorstandes leitet. Im Handwerk, mit dem Kolping traditionell eng verbunden ist, sei die Quote besonders niedrig. Dabei ist Tarifbindung kein Selbstzweck. Der DGB weist regelmäßig daraufhin, dass tariflich Beschäftigte im Durchschnitt einen deutlich höheren Lohn erhalten. Hinzu kommen mehr Urlaubstage, bessere Arbeitszeitregelungen und kürzere Arbeitszeiten.
Der gesetzliche Mindestlohn, für dessen Einführung KOLPING schon vor 20 Jahren geworben hatte, hat zu einer Schrumpfung des Niedriglohnsektors beigetragen. Er sei faktisch aber nur die zweitbeste Lösung, die aus der Not einer abnehmenden Tarifbindung entstanden sei, so Zellner. Dies bestätigt Jimmy Müller vom ÖGB. Anders als in den meisten Mitgliedsstaaten der EU bestehe in Österreich kein gesetzlicher Mindestlohn. “Der ÖGB fordert verbindliche Branchenmindestlöhne, sodass Kollektivverträge oberhalb eines bestimmten Lohnniveaus abgeschlossen werden.” Eine gesetzlich verankerte Lohnuntergrenze sei hingegen nicht zielführend, weil sie sogar den gegenteiligen Effekt mit sich bringen kann, indem sich die kollektivvertraglich festgelegten Lohnniveaus nach unten bewegen.

Es ist nicht alles Gold, was glänzt

Zurück im Sozialministerium wird noch einmal das Gespräch auf die Finanzierbarkeit des Pensionssystems gelenkt. Gemessen an der jährlichen Wirtschaftsleistung müssen 15 Prozent zur Finanzierung der Alterssicherung aufgewendet werden, während es in Deutschland nur 12 Prozent sind. Hinzu kommt, dass aufgrund des nahenden Ruhestands der geburtenstarken Jahrgänge enorme finanzielle Lasten auf beide Rentensysteme zurollen. “Immerhin ist der Beitragssatz bislang stabil geblieben”, wie Zellner mit Blick auf eine Grafik feststellt, die Magister Bauernberger an die Wand geworfen hat. Tatsächlich liegt der Beitrag seit 1988 unverändert bei 22,8 Prozent. Ob dies auf Dauer so zu halten sei, bleibe jedoch fraglich. Anfang des Jahres musste Österreich der Europäischen Kommission in Brüssel einen Rahmen für die anstehende Haushaltskonsolidierung übermitteln. Anders als in Deutschland liegt die Staatsverschuldung deutlich über dem Maastricht-Kriterium von 60 Prozent, das Defizit wird in diesem Jahr voraussichtlich über 4 Prozent liegen. Vor diesem Hintergrund seien Einschnitte im Pensionssystem
Beim Verlassen des Ministeriums kommen Werner Koop und Kathrin Zellner ins Grübeln und beginnen gleich mit einer ersten Reflexion. Sicherlich sei nicht alles Gold, was glänzt. “14 Monatsrenten im Jahr, das klingt schon toll”, sagt Koop. Aber natürlich müsse auch alles solide gegenfinanziert sein. Dennoch habe vieles beeindruckt, was man in Wien erfahren habe, vor allem auch die Erkenntnis, dass gute Renten unmittelbar mit guten Arbeitsbedingungen und einer starken Organisation auf Seite der Arbeitnehmenden zusammenhängt. “In Österreich macht man nicht alles anders, aber vieles besser”, resümiert Zellner. Vom österreichischen System der Mitbestimmung könne man eine Menge lernen. Für KOLPING sei dies allemal ein Erkenntnisgewinn, an dem man für die weitere inhaltliche Arbeit als Sozialverband und Arbeitnehmerorganisation anknüpfen könne.
Auf der Heimreise nach Deutschland kommen Koop und Zellner im ICE mit einem Deutschen ins Gespräch, der seit über zehn Jahren in Wien lebt. Als er den Hintergrund erfährt, weshalb es die Kommission zu Gesprächen nach Wien gezogen hat, entgegnet er mit einem Schmunzeln, nicht ganz frei von Selbstkritik: “Eine Gruppe Deutscher, die nach Österreich fährt, um zu erfahren, was dort besser gemacht wird? Ich bin ganz erstaunt. Bisher kannte ich nur den Umstand, dass Deutsche nach Österreich fahren und dort erzählen, was bei ihnen daheim besser läuft.”
Der Autor

Alexander Suchomsky ist Referent für Arbeit, Gesellschaft und Soziales. Der Diplom-Volkswirt ist zugleich Bundesgeschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Arbeitnehmer-Organisationen (ACA).
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